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Suche Frieden und jage ihm nach – was wichtig bleibt


24. Juni 2022

Interview mit dem Beauftragten für Friedens- und Versöhnungsarbeit in der sächsischen Landeskirche, Michael Zimmermann

 

Herr Zimmermann, vor vier Monaten begann die russische Armee ihren Angriff auf die Ukraine. Auch in Deutschland hat dieser Überfall Entsetzen und Sorge ausgelöst. Wie haben Sie als Friedensbeauftragter die letzten Monate wahrgenommen?
Für mich und die meisten war es schlicht unvorstellbar, dass eine Atommacht in Europa ein anderes Land überfällt. Neben der großen Solidarität mit Geflüchteten habe ich aber auch bei vielen Menschen die Sorge wahrgenommen, dass sich der Krieg weiter nach Westen und damit zu uns ausweiten könnte. Was uns allen jedoch nicht bewusst war: Der Krieg in der Ukraine hat schon viel früher mit der Besetzung der Krim und den Kämpfen im Jahr 2014 begonnen. Nur wurde er seitdem in Deutschland kaum wahrgenommen.

Überall wird nun diskutiert, wie man sich zu diesem Krieg verhalten soll. Auch in der Kirche gibt es unterschiedliche Haltungen. Wie ist da Ihre Position?
In dieser Situation stellt sich für uns Christen nun mit neuer Dringlichkeit die alte Frage, was es heißt, den Frieden zu suchen und ihm nachzujagen. Die einen meinen, bisherige Aussagen der evangelischen Friedensethik haben sich erledigt. Andere sagen, eine Friedensethik wird sich gerade jetzt im Ernstfall bewähren. Sie muss nicht neu geschrieben, sondern immer wieder in die aktuelle Situation übertragen werden.
Zunächst finde ich es wichtig, dass wir als Kirche die vom Krieg betroffenen Menschen in den Blick nehmen – in unserer Wahrnehmung, in unseren öffentlichen Äußerungen, in unseren Gebeten und mit tätiger Hilfe. Das sind vor allem diejenigen, die in der Ukraine leben und diejenigen, die von dort geflohen sind. Die materiellen Verluste und das seelische Leid sind unermesslich. Durch die Gefechte werden auch Zivilistinnen und Zivilisten getötet. Familien werden zerrissen, weil Frauen und Kinder geflüchtet sind und die Männer das Land nicht verlassen dürfen. Häuser und Wohnungen werden zerstört. Auch vor Kirchen wird nicht Halt gemacht. Soldatinnen und Soldaten sind gefallen. Auf beiden Seiten. Wir sollten nicht vergessen, dass auch in Russland Mütter um ihre getöteten Söhne trauern oder sie nur noch körperlich oder seelisch versehrt in den Arm nehmen können. Auch von denjenigen, die sich in Russland und der Ukraine dem Krieg durch Desertion entziehen, hören wir kaum etwas.

Kommen Menschen mit dem Thema Desertation oder Kriegsdienstverweigerung zu Ihnen?
Die Beratung von Menschen zum Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung hat seit Ende Februar massiv zugenommen. Es melden sich Reservisten, deren Haltung sich seit ihrem Wehrdienst verändert hat. Und es melden sich Jugendliche, auch mal ihre Eltern, die Angst haben, dass die Aussetzung der Einberufung zur Wehrpflicht in Deutschland wieder aufgehoben wird. Die Beratung erfolgt meist telefonisch.
Für den Schutz und die Begleitung von Deserteuren aus Russland, Belarus und der Ukraine setzt sich Connection e.V. ein. Die unterstütze ich im Rahmen meiner Mitarbeit in der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK).

Welche friedensethische Positionierung würden Sie sich für unsere Kirche wünschen?
„Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten“, ist einer der wesentlichen Grundsätze, die die EKD-Denkschrift 2007 vertritt. Er setzt nicht einseitig auf militärische Sicherheit, sondern hat einen umfassenderen Begriff, was Frieden bedeutet. Im Falle eines Krieges braucht es vor allem und schnell einen Waffenstillstand. Aber Friedenslogik geht weiter. Sie fragt, wie in anbahnenden Konflikten Gewalt auf beiden Seiten vermieden oder verringert werden kann. Frieden vorbereiten heißt, auch im Falle eines Krieges, nicht nur auf Gewalt und eigenen Vorteil zu setzen, sondern die Möglichkeiten von Diplomatie zu nutzen. Wichtig ist mir, Gewaltfreiheit an die erste Stelle zu setzen.

Was bedeutet dies nun in der Diskussion um Waffenlieferungen aus Deutschland?
Unbestritten ist das Recht auf Selbstverteidigung. Die Denkschrift 2007 spricht auf der einen Seite von der vorrangigen Option für Gewaltfreiheit. Sie ergänzt, dass „der Dienst am Nächsten aber auch die Notwendigkeit einschließen (kann), den Schutz von Recht und Leben durch den Gebrauch von Gegengewalt zu gewährleisten.“ Das ist augenblickliche Realität, das Recht und Leben auch durch den Gebrauch von Gewalt geschützt werden müssen. Aber klar muss allen sein: Frieden wird nicht durch Waffen erreicht. Deshalb können Waffenlieferungen nur eine vorübergehende Notlösung bleiben.
In Deutschland haben wir klare Regelungen, nach denen Waffenlieferungen erfolgen – darüber entscheiden die entsprechenden politischen Gremien. Aus meiner Sicht ist es auch wichtig, dass wir uns mit der Frage beschäftigen, welche Verantwortung Deutschland aus seiner Geschichte heraus und heute in Europa hat. Das sollten wir als Kirche unterstützen.

Wie können wir als Kirche angesichts dieses Krieges – aber auch angesichts der vielen anderen kriegerischen Konflikte auf der Welt – friedensstiftend wirken?
Evangelische Friedensethik der Gegenwart wird vom Leitbild des gerechten Friedens bestimmt. Hintergrund ist das weite Friedensverständnis, das vom Schalom Gottes ausgeht und Wohlergehen, Glück, ein Leben in Würde meint. Frieden und Gerechtigkeit hängen voneinander ab. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Frieden stiften heißt, dieses breite Verständnis einzubringen, uns für die Menschen und Länder einzusetzen, deren Leid durch vergessene Kriege zu wenig Beachtung findet, die Sorge um die weltweiten Veränderungen durch den Klimawandel ernst zu nehmen, für eine gerechtere und nachhaltigere Verteilung des Reichtums einzutregen und immer wieder Brücken bauen.

Wie kann die Kirche diesen Blick auf die Menschen in einem solchen Krieg fördern und Brücken der Verständigung bauen helfen?
In der Nachfolge Christi ist Kirche besonders gefordert, sich für den Frieden einzusetzen. Das tut sie mit ihrem Zeugnis und im Gebet. Mit diesem Hintergrund bringt sie ihre Stimme in die Diskussion um den Frieden in der Gesellschaft ein. Im Ukrainekrieg steht die Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche besonders im Blickpunkt. Um den Dialog mit ihr weiter zu ermöglichen und die Kriegskritiker in ihren Reihen zu stärken, sollten die Dialogmöglichkeiten der weltweiten Ökumene genutzt werden und kein Ausschluss aus den Zusammenschlüssen wie dem Ökumenischen Rat der Kirchen erfolgen, wie das jetzt entschieden wurde.

Der Krieg in der Ukraine, der mit seiner Verortung in Europa und seinen Auswirkungen uns in Deutschland sehr nahe rückt. Er ist in fast jedem Gespräch präsent. Was brauchen Menschen hier?
Ich nehme eine große Sorge und Verunsicherung wahr, aber auch eine intensive Beschäftigung mit Werten und Verantwortung. Eine Folge der russischen Invasion ist aber auch eine deutlich spürbare Zunahme von feindseligen Kommentaren und Kriegsrhetorik in unserer Gesellschaft. Hier werden indirekte Folgen des Krieges sichtbar. Christinnen und Christen treten dem wachsenden Hass entgegen. Sich nicht vom Bösen überwinden zu lassen bleibt ein aktueller Auftrag, der ermöglicht, im anderen den Menschen zu sehen, auch wenn das im Falle eines Krieges manchmal nicht leicht scheint. Als Kirche lebt die Hoffnung vor, die sich auf Christus gründet und die in Krisen Halt geben kann.

Der Ukrainekrieg währt inzwischen 4 Monate und aktuell ist kein Ende in Sicht. Müssen wir uns daran gewöhnen?
Wir dürfen uns an den Krieg um der Menschen und um Christi willen nicht gewöhnen. Christliches Friedensengagement ist Teil der „Friedensbewegung Gottes in diese Welt hinein“. Das fordert und entlastet in gleicher Weise. Aktuell wird wieder klar, dass Frieden nicht selbstverständlich und ein Geschenk Gottes ist. Das führt nicht zu Passivität und Gewöhnung, sondern zu Wachheit und Einsatz für Frieden und vom Krieg betroffene Menschen. Und das gilt nicht nur für die Ukraine, sondern letztlich für alle Kriege auf der Welt. Wir brauchen ein weltumspannendes Netz von Friedensorganisationen und Friedensbewegungen, daran können wir Kirchen entscheidend mitbauen. Denn selig sind die Friedensstifter.

Das Interview führte Tabea Köbsch mit Michael Zimmermann am 24. Juni 2022

 

Materialien zum Thema Ukraine / Frieden / Flüchtlingshilfe 

Materialien zum Thema Friedensbildung / Friedenserziehung in Sachsen 

 

Michael Zimmermann, Beauftragter für Friedens- und Versöhnungsarbeit der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens

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