Gesichter unserer Landeskirche

Leitet die Dresdner Bahnhofsmission: Elvira Ploß

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August 2019

"Nächstenliebe heißt für mich jedem Menschen auf Augenhöhe zu begegnen"

Elvira Ploß arbeitete mit gewaltbereiten Jugendlichen, begleitete Straftäter während des Entlassungsprozesses, engagierte sich als Familienhelferin in sozialen Brennpunkten und ließ sich als Affektkontrolltrainerin und in Kampfkunst ausbilden. Obwohl sie bereits 2017 in Rente ging, leitet sie nun seit Juli 2019 die Bahnhofsmission am Hauptbahnhof Dresden. Diese wird in Trägerschaft des Diakonisches Werk-Stadtmission Dresden e.V. geführt, in Kooperation mit den Dresdener Kirchenbezirken, dem Röm.-Kath. Dekanat, der Caritas, der Landeshauptstadt und der DB Station & Service AG.Vor Ort sprach sie mit Romy Stein darüber, warum jeder Mensch einen vorurteilsfreien Umgang fernab von Schubladendenken verdient.

Wohnungslose und Bahnhofsmission werden oft in einem Atemzug genannt. Entspricht das auch Ihrer Erfahrung oder für wen möchte die Bahnhofsmission Ansprechpartner sein?

Seit Mitte Juli hatten wir ein breitgefächertes Publikum, aber tatsächlich ging es oft um Notschlafstellen.

Generell sind wir für alle Personen in und am Bahnhof da. Das klassische Repertoire reicht vom Aushändigen eines Pflasters bis hin zur Krisenintervention in schwierigen Lebenslagen.

Unsere Arbeit steht dabei auf zwei Säulen. Einerseits empfangen wir die Leute in den hiesigen Räumlichkeiten, bieten Rückzug, Beratung oder seelischen Beistand. Anderseits sind wir am Gleis unterwegs und halten dort die Augen offen. So helfen wir älteren Leuten aus dem Zug oder bringen Menschen mit Behinderung auf unterschiedliche Gleise sowie vom Bahnhof zum Bus.

Würden Sie auch jemanden abweisen?

Es kann jeder unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Religion o.ä. zu uns kommen. Abgewiesen wird niemand. Es sei denn, er hält sich nicht an die Hausordnung, das heißt er bringt Alkohol mit in die Räume oder wird gewalttätig. Wenn jemand aggressiv wird, würden wir ihn jedoch erst einmal bitten sich zu beruhigen, bevor wir ihn des Raumes verweisen. Auch Hunde können wir nicht einlassen, versorgen sie aber gern mit Wasser, wenn sie draußen angebunden werden.

Wie gehen Sie damit um, wenn Sie jemand beschimpft oder aus Wut herumbrüllt?

Ich habe mich vor Jahren schon als Affektkontrolltrainerin ausbilden lassen und habe dabei viel über mich selbst gelernt. Zum Beispiel auf die eigene Reaktion zu gucken, und was das mit der eigenen Bibliothek, also den Erfahrungen und Prägungen zu tun hat.  Wenn ich selbst wütend werde, weiß ich, dass das was mit meiner eigenen Biografie zu tun hat, weil eine Person mich an jemanden erinnert oder getriggert hat.

Da das für uns alle gilt, weiß ich, dass das Brüllen oder die Wut eines anderen nichts mit mir zu tun hat, sondern nur mit ihm selbst. Ich nehme es also nicht persönlich.

Können Sie erklären, was es mit dem Affektkontrolltraining auf sich hat? In welchem Zusammenhang lernten Sie dies?

Als ich bei der Jugendgerichtshilfe arbeitete, implementierte ich sogenannte soziale Trainings, also soziale Gruppenarbeit als ambulante Maßnahme für Jugendliche die straffällig geworden waren. Da ich an dieser Stelle eine Form der Affektkontrolle organisieren wollte, bildete ich mich persönlich weiter und ließ mich als Affektkontrolltrainerin in Zusammenhang mit einer Kampftechnik ausbilden.

Welche beruflichen Erfahrungen bringen Sie noch mit und wie kamen Sie genau zur Bahnhofsmission?

Ursprünglich war ich Lehrerin für Mathematik und Physik. Nach der Elternzeit mit meinem dritten Kind wandte ich mich dem sozialen Bereich zu, der mich schon immer sehr interessierte. Nach meiner Tätigkeit in der Stadtverwaltung ging ich zur bereits erwähnten Jugendgerichtshilfe. Später arbeitete ich bei der Diakonie und gab dort soziale Trainings. Parallel war ich als Familienhelferin in sozialen Brennpunkten aktiv. Außerdem arbeitete ich in einer Beratungsstelle für häusliche Gewalt und leitete 2015 das Flüchtlingsheim in der Katharinenstraße, bis ich 2017 in Rente ging.

Seither engagiere ich mich ehrenamtlich z.B. beim "Treff International" in der Martin-Luther-Kirche. Als ich wegen einer schwierigen Situation zwei Wochen im Kindergarten aushalf, hörte ich von den Überlegungen eine Bahnhofsmission zu eröffnen. Damals dachte ich: Ein schönes Projekt, was mir auch Spaß machen würde. Dann wurde ich angefragt, erbat mir eine Nacht Bedenkzeit und nun arbeite ich wieder.

Sie waren Lehrerin, haben mit Jugendlichen und Familien in schwierigen Situationen, dann mit Flüchtlingen gearbeitet und sind jetzt hier. Warum zieht Sie die Arbeit mit Menschen in besonderen Lebenslagen so an?

Mich interessieren die Menschen, auch jene, die es im Leben schwer haben oder die in Randgruppen immer einer gewissen Gratwanderung ausgesetzt sind.

Jeder ist besonders. Und hier begegnen mir Biografien, die nochmals ganz anders, aber eben sehr interessant sind. Ich weiß nicht, woher dieses Interesse kommt, aber es passt zu meinem Menschenbild und zu dem, was ich unter Nächstenliebe verstehe.

Ich glaube, dass viele Menschen in Schubladen gesteckt und nicht wahrgenommen werden. Offenbar habe ich die Fähigkeit jeden Menschen mit seinen Talenten so anzunehmen, wie er ist. Meiner Erfahrung nach hat jeder eine Chance verdient.

Was möchten Sie den Menschen (mit)geben, die die Bahnhofsmission betreten oder die mit den Mitarbeitern auf dem Gleis in Kontakt kommen?

Zuhören und nicht bewerten ist für mich ein ganz wichtiger Punkt.

Fachliche und sachliche Informationen geben und ganz klar aufzeigen, was möglich ist oder welche Anlaufstellen es gibt. Im besten Falle können wir für die hilfesuchende Person eine Initialzündung sein oder einen ersten Schritt anregen.

In meinem Alter kann ich aus Erfahrungen schöpfen und sagen, was ich machen würde. Hier können Metaphern unterstützen, also Bilder aus der Lebenswelt des Gegenübers. Wenn ich beispielsweise mit einem Automechaniker spreche, kann ich mir seine Arbeit erklären lassen, weil ich davon relativ wenig Ahnung habe. Dann komme ich vielleicht zufällig auf die Idee und sage „Das ist ja wie im Leben. Da muss man an der einen Stelle etwas hinzufügen und an der anderen etwas wegnehmen, damit es wieder rundläuft".

Können Sie Menschen, die nicht täglich mit Wohnungslosen in Kontakt kommen und gewisse Berührungsängste im Alltag haben, einen Tipp für einen freundlicheren Umgang geben?

Es reicht schon, nicht mit negativen Gedanken vorbeizugehen. Man sagt „Gedacht ist getan". In dem Moment, in dem ich so denke, verfestigt sich noch einmal die Autobahn in meinem Kopf. Sobald ich einen neuen Gedanken zulasse oder einen anderen Blickwinkel einnehme, schaffe ich einen kleinen neuen Trampelpfad. Wenn ich auf dem immer wieder laufe, wird irgendwann eine Autobahn daraus. Das heißt, wenn ich immer dasselbe Argument bestätigt bekomme, verfestigt sich mein Denken und Handeln.

Mit der Zeit kann ich diesen Menschen dann vielleicht auch einfach ein Lächeln oder ein nettes Wort schenken, statt sie zu ignorieren. Man kann auch den Gedanken „Es gibt einen Grund, warum das so ist. Ich kenne ihn nicht, aber es gibt einen." üben. Das macht schon weicher im Denken und hilft übrigens auch in vielen anderen Situationen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Bahnhofsmission?

Mein Wunsch wäre es, die Öffnungszeiten der Bahnhofsmission weiter auszudehnen und eine Möglichkeit in Dresden zu finden, wo Duschen, Waschmaschinen und Toiletten für die Leute da sind. Auch wünsche ich mir ganz viele gute Begegnungen und vielleicht ab 2022 am Neustädter Bahnhof eine Dependance, die im besten Falle eine Übernachtungsmöglichkeit bietet.

Liebe Frau Ploß, ich wünsche Ihnen viel Kraft für Ihre Arbeit und danke Ihnen herzlich für das offene Gespräch. 

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