Gesichter unserer Landeskirche

Seelsorge in Coronazeiten: Anne Straßberger & Christiane Escher

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Juli 2020

Menschen wollen gesehen werden

Mit den Einschränkungen während der Corona-Pandemie stieg der Bedarf an seelsorglicher Begleitung. Pfarrerin Anne Straßberger (48) ist Seelsorgerin für inhaftierte Frauen in der Justizvollzuganstalt Chemnitz. Gemeinsam mit Ihrer Seelsorgekollegin, der Gemeindepädagogin Christiane Escher (48) begleitet sie außerdem Menschen in den Pflegeheimen und Einrichtungen der Stadtmission Chemnitz und ist als theologische Referentin für Beratung und diakonische Fortbildung von Mitarbeitenden zuständig. Beide sprachen mit Romy Stein über die Herausforderungen und kreativen Lösungen, welche die Coronakrise hervorbrachte.

Wie definieren Sie Seelsorge?

Straßberger: Für mich ist Seelsorge eine aufmerksame, zugewandte Präsenz gegenüber Menschen, die in unterschiedlichen Lebenssituationen Unterstützung suchen.

Escher: Seelsorge ist für mich wertfreies Zuhören. Das funktioniert am besten, wenn ich wirklich offen bin und innerlich mit nichts hadere.

Welchen Weg haben sie genommen, um heute seelsorglich arbeiten zu können?

Straßberger: Wir haben beide eine klinische Seelsorgeausbildung (KSA), die auf einem hohen Maß an Selbsterfahrung beruht. Das bedeutet, Zugang zu eigenen Gefühlen wie Schmerz, Freude oder Angst zu bekommen und in der Begegnung mit anderen Menschen wahrzunehmen. In meinen ersten zehn Berufsjahren als Gemeindepfarrerin im Muldental wurde ich regelmäßig in umliegende Krankenhäuser zu Gemeindegliedern gerufen. Wenn es um Leid und schwere Krankheit ging, empfand ich oftmals Ohnmachtsgefühle. Meine berufsbegleitende Seelsorgeausbildung hat mir dabei sehr geholfen, auch schwere seelsorgliche Situationen auszuhalten. Oft hilft es Menschen in Krisensituationen einfach schon, dass jemand da ist und ihre Situation für eine gewisse Zeit an ihrer Seite mit ihnen aushält. Das durfte ich lernen und möchte diese Erfahrung nicht mehr missen.

Escher: Als Religions- und Gemeindepädagogin stieß ich im Kontakt mit Kindern, Erwachsenen und Älteren in manchen Situationen an persönliche Grenzen. Dahingehend wollte ich mich weiterentwickeln, um diesen Menschen helfen zu können. Deshalb entschied ich mich für die Seelsorgeausbildung. Heute bin ich als Altenseelsorgerin in den Heimen der Stadtmission tätig.

Wie ließ und lässt sich Ihre seelsorgliche Arbeit in Coronazeiten realisieren. Gab und gibt es einen veränderten Bedarf?

Escher: In einem der Altenheime habe ich mein Büro, deshalb hatte ich auch während der Einschränkungen Zutritt zu diesem Haus. Normalerweise bin ich regelmäßig auf den Stationen und komme mit den Bewohnern spontan ins Gespräch. Während der Einschränkungen kam ich zeitweise nur in die Häuser, wenn ein dringendes Gespräch gewünscht wurde - abgesehen von Sterbebegleitungen - zeitweise gar nicht. Jetzt ist es wieder offener, jedoch trage ich Mund-Nasen-Schutz, Handschuhe und Gummischürze. 

Als keine Gottesdienste stattfinden durften, habe ich gemeinsam mit einem Ehrenamtlichen, vierzehntägig einen Gottesdienst für die Pflegeheime auf CD aufgenommen. Auch wenn es für mich gewöhnungsbedürftig war, habe ich bewusst niemand anderen sprechen lassen, damit die Leute die vertraute Stimme wiedererkennen.

Straßberger: Als Pfarrerin hatte ich auch während der Einschränkungen Zutritt zum Gefängnis. Jedoch waren nur Einzelgespräche möglich. Alle Gruppen und Gottesdienste wurden abgesagt. Durch die fehlenden Besuche der Angehörigen und fehlende Kontakte in Gruppenangeboten entstand ein deutlich erhöhter Bedarf an Seelsorgegesprächen, der nach wie vor anhält. Jetzt sind wieder Besuche hinter Plexiglas möglich. Weil es viele Frauen schmerzt, ihre Kinder nicht umarmen zu dürfen, verzichten sie darauf.

Auch in der Stadtmission wuchs der Gesprächsbedarf, vor allem im Zusammenhang mit den Folgen der Pandemieeinschränkungen wie z. B. die familiäre Belastung durch Homeoffice und Kinderbetreuung, Kurzarbeit, Einsamkeit und Sorge um Klientinnen oder potentiell gefährdete Familienmitglieder.   

Eine mögliche eigene Erkrankung sorgt die Leute also weniger als die situationsbedingten Begleiterscheinungen?

Straßberger: Ja, ich erlebte in den zurückliegenden Wochen bei vielen Menschen weniger die Sorge um sich selbst, als um diejenigen, die aus Vorsichtsgründen nicht besucht werden durften, weil sie zur Risikogruppe gehören. Manche erlebte ich in einer Situation des Zurückgeworfenseins auf sich selbst, mit plötzlich zum Vorschein kommenden existenziellen Lebensthemen wie Einsamkeit, Unsicherheit und Angst.

Escher: Ich habe auch festgestellt, dass die ältere Generation sich weniger um sich sorgt, die sagen: „Ich bin über 80 / 90 und ich hab mein Leben gelebt“. Eher haben sie Angst um Kinder, Familie und Urenkelchen. Man muss auch bedenken, dass es sich um eine relativ zähe Generation handelt, von denen einige das Kriegsdrama überlebt haben.

Was wäre anders, wenn Sie nicht glauben würden?

 

Escher: Dann würde ich mich an mancher Stelle sehr hilflos fühlen. Gerade auch wenn es um den Tod geht. Er ist schmerzhaft und hinterlässt eine Lücke. Die Hoffnung und Kraft, von denen ich mich getragen fühlen darf, schaffen für mich eine Balance, die mir beispielsweise Sterbebegleitungen erleichtert. Wenn es etwas gibt, wo ich nicht weiter weiß, kann ich die Hände falten. Das macht mich nicht ganz so hilflos.

Straßberger: Meine Gottverbundenheit ist der Grund und Boden meiner Arbeit, wie ein Mutterboden, aus dessen Grund die Dinge hervorgehen und der trägt und nährt. Zudem ist mir ein Vers aus dem 2. Korintherbrief zum Leitwort geworden: „Gott ist der Geist und wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit“ - nicht nur für meine Arbeit im Gefängnis.

Was haben Sie über Menschen und die Gesellschaft durch Ihre Arbeit gelernt?

 

Straßberger: Ich mache die Erfahrung, dass Menschen in ihren Bedürfnissen gesehen werden wollen. Gleichermaßen in Freude, Angst und Schmerz. Wenn Menschen das spüren, kann es zu erstaunlichen Begegnungen kommen – auch zwischen Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Menschen müssen keine Freunde werden, um sich mit Respekt zu begegnen, einander zuzuhören und sich dabei zu begegnen.

Escher: Ich habe gelernt: es gibt nicht nur die Gesellschaft, sondern eben auch den einzelnen Menschen. Ich will schauen, wo der Einzelne steht, und ich möchte diesen individuell würdigen. Jeder hat einen Platz, so wie er ist, mit all seinen Facetten.

Haben Sie eine Idee oder einen Wunsch, wie es nach Corona sein wird?

Escher: Ich denke viele Menschen sind ihren Bedürfnissen näher gekommen, haben gemerkt was für sie bedeutsam ist oder worauf sie den Fokus setzen wollen.

Straßberger: Ich wünsche mir eine neue Achtsamkeit im Umgang miteinander, mit eigener der Lebenszeit, mit anvertrauten Menschen; mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung der Ressourcen dieser Erde und ein wachsendes Gottvertrauen, dass auch neue ungewohnte Wege gehbar werden. 

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